Die Jagd (2012, Thomas Vinterberg)

                     

Wie bereits 1998 - mit seinem Beitrag zum Dogma 95-Manifest - schafft es Thomas Vinterberg über eine Dekade später erneut mit einem Film in dessen Zentrum ein Kindesmissbrauch steht für Aufsehen zu sorgen. Diesmal nähern wir uns dem heiklen Thema allerdings aus einer etwas anderen Sichtweise. Eines bleibt jedoch identisch: Vinterberg wirft einen genaueren Blick auf unsere Gesellschaft.
 
Der 40 jährige Lucas ist ein fester Bestandteil einer kleinen Gemeinschaft in einem dänischen Vorort. Nachdem er seinen Job als Lehrer verlor und ihn seine Frau verlassen hat, ist er nun froh eine neue Stelle als Betreuer in einem Kindergarten gefunden zu haben. Mit Lucas' Leben scheint es wieder bergauf zu gehen. Bis ihn eines Tages ein Mädchen des sexuellen Missbrauchs beschuldigt.
 
Ursache 
 
Um zu ergründen, wie es zu dieser Anschuldigung kam, sollten wir zuerst die Entstehungsgeschichte sorgsam unter die Lupe nehmen und den psychischen Zustand des Mädchens - welches später dieses Gerücht in die Welt setzten wird - etwas genauer beleuchten. Obwohl wir Klara's Familie nie ganz genau Kennenlernen, wird es dennoch deutlich, dass in ihrem zu Hause nicht gerade das beste Klima herrscht und es des Öfteren zu Auseinandersetzungen kommt. Es scheint nicht gerade ein behütetes, liebevolles Heim für das kleine Mädchen zu sein. Das ist auch der Grund, warum Klara die Nähe und Zuneigung zu Lucas sucht. Sie sucht diese Zuneigung, die sie zu Hause nicht bekommt. Jene Suche nach Vertrautheit geht eines Tages soweit, dass sie Lucas auf den Mund küsst. Diese Geste muss der Kindergärtner natürlich missbililigen. Daraufhin reagiert Klara verzweifelt - sie bekommt die Wärme, die Liebe, die sie zu geben hat, von keinem erwidert. Das ist auch der Grund, warum dieses Gerücht zu Stande kommt. Indem sie das wiederholt, was sie zuvor von ihren Bruder aufgeschnappt hat, verschafft sie ihrer Verdrossenheit einen Ausdruck.
 
Motivationen
 
Mit den paar Worten, die Klara der Kindergärtnerin anvertraut, kommt dann auch dieser Ball ins rollen. Wie formal und unaufgeregt sich Lucas' Unheil daraufhin anbahnt, ist regelrecht gruselig. Die Fassade der vermeintlich ungetrübten Kommunität beginnt schön langsam einzustürzen. Man merkt, hinter der Kleinstadt-Idylle verbirgt sich etwas hartnäckig verbittertes. Es ist deutlich zu spüren, dass Lucas - obwohl alles weiter seinen geregelten Ablauf zu nehmen scheint - etwas Unabwendbares bevorsteht. Dabei wird es auch immer offensichtlicher, dass es eigentlich keine Rolle spielt, ob dieser Missbrauch überhaupt stattgefunden hat. Nicht nur an der sehr unangenehm anmutenden Szene, wo man Klara nochmal zum Vorfall befragt, wird das ersichtlich. Viel mehr scheint man es zu wollen, dass es den Tatsachen entspricht. Es bietet sich damit schließlich eine Möglichkeit, um sich selbst besser fühlen zu können. Man kann die eigene/n innere Unzufriedenheit und Probleme - ohne die dieses Gerücht gar nicht erst entstanden wäre - dann auf die Seite schieben und zugleich seinen Platz in der Gesellschaft festigen. Insbesondere wenn man im Kollektiv mit dem Finger auf etwas zeigt. Man sieht so etwas ja auch tag täglich in unserem Leben. Denken wir nur ans Fernsehen, an den Umgang mit Minderheiten, oder an Szenarien bei Entlassungen von Kinderschändern. Woraufhin dann oft eine ganze Gemeinde dagegen protestiert, dass sich dieser Kinderschänder in jener Gemeinde niederlässt. Doch geht es dabei wirklich um die Sicherheit ihrer Kinder?
 
Nachdem sich die Folgen dieser Beschuldigung immer weiter entfaltet haben - wer steht da eigentlich noch zu Lucas? Es gibt da noch eine weitere Verwandtschaft von ihm, die anscheinend ziemlich wohlhabend ist. Das pompös wirkende Anwesen kommt ja auch deutlich zur Geltung. Hier stellt sich jedenfalls diese Frage gar nicht, ob Lucas schuldig ist. Dass obwohl selbst seine unbeschwerte Freundin, die im Prinzip wusste, dass dieses Gerücht absoluter Blödsinn ist, einen Moment an seiner Unschuld zweifelte. Ich denke also schon, dass man die Frage stellen sollte, warum die mögliche Schuld Lucas' hier überhaupt nie Thema war. Der einfache Grund dahinter ist, dass man es nicht nötig hatte ihn zu beschuldigen. Der bereits erläuterte Eigennutzen spielt hier keine Rolle, und deswegen kommt man erst gar nicht auf die Idee sich diese Frage zu stellen. Lucas hätte auch schuldig sein können und nichts wäre anders abgelaufen. Da wären wir dann bei Vinterberg's Dogma-Film angelangt.
 
Die Jagd
 
Die Lynch-Mentalität, infolge des vermeintlichen Kindesmissbrauchs, ist natürlich relevant und wird gut dargelegt. Dennoch dient dies nur als Vehikel für den eigentlichen Inhalt. Worauf ich genau hinaus will, werde ich mit zwei bemerkenswerten Szenen näher bringen.
 
Einkauf: Am Höhepunkt dieser Hexenjagd kann Lucas nicht mal mehr Lebensmittel für sich besorgen. Er wird zusammengeschlagen und aus dem Kaufhaus geworfen. Gewiss arbeitet man auch hier wieder als Team, um den "bösen Menschen" aus dem Laden zu befördern. Chef, Schlachter, Lehrling - alle machen mit. Doch was passiert dann!? Lucas lässt sich das nicht mehr gefallen. Er will seinen Einkauf wieder zurückholen. Von der Auseinandersetzung gezeichnet, geht er zurück und revanchiert sich beim Schlachter, der ihn zuvor verprügelt hat. Daraufhin bekommt er seinen Einkauf wieder retour.
 
Kirche: Lucas gesellt sich - trotz seines von der Schlägerei gezeichneten Gesichts - zum Gottesdienst am Heiligen Abend. Natürlich konfrontiert er damit indirekt die ganze versammelte Gemeinde. Unterdessen der Gottesdienst am Laufen ist, wird Lucas emotional im Angesicht seiner ehemaligen Freunde. Er dreht sich um und schaut seinem ehemaligen besten Kumpel direkt in die Augen. Ein paar Momente später konfrontiert Lucas ihn geradeaus, indem er aufsteht und vor all den bekannten Gesichtern handgreiflich wird.
 
Was Vinterberg in diesen zwei Szenen schafft zu illustrieren, ist, wie unsere Gesellschaft in der Praxis funktioniert; welche Sprache sie spricht und versteht. Wie bereits im Kaufhaus, hatte das Auftreten von Lucas im Gottesdienst eine Wirkung. Im Lebensmittelladen durfte er, nachdem er sich revanchiert hat, seinen Einkauf wieder mitnehmen. Nach der gewaltsamen Auseinandersetzung vor der ganzen Gemeinde, entschuldigt sich sein Kumpel bei ihm. Ein Jahr später ist Lucas dann wieder volles Mitglied der ganzen Gemeinschaft und mit jedem im Reinen. Selbst alleiniges Zusammensein mit Klara ist kein Problem mehr. Aber wie bereits aufgearbeitet: um Klara - und was ihr möglicherweise zugestoßen ist - ging es sowieso nie. Erst als Lucas öffentlich Stärke zeigt, Macht ausübt und sich Respekt verschafft, erst dann ist er wieder Teil der Gemeinschaft; das ist der einzige Grund. Und genauso ist es auch, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Du kannst keine Schwäche zeigen und weiter ein gleichgestelltes Individuum sein in einer Gemeinschaft; nein, so etwas ist nicht möglich.
 
Man sollte sich jetzt folgende Frage stellen: Was wäre, wenn Lucas nicht ein gestandener körperlich und psychisch gesunder Mann wäre, wie in eben Mads Mikkelsen perfekt verkörpert. Was wäre, wenn er nicht in der Lage ist in der Form für sich einzustehen. Man kann sich verschiedene Szenarien ausmalen. Man könnte auch die Ursache der Hexenjagd komplett ändern und den Hauptcharakter durch eine Frau ersetzen.
 
Das ist die Frage die uns unweigerlich vor Augen geführt wird, indem man die Apparatur unserer Öffentlichkeit zur Schau stellt. Die Jagd wagt einen präzisen Blick unter die Oberfläche unserer geselligen Gemeinschaften. In der letzten Szene wird das noch einmal deutlich. Lucas ist zwar wieder Teil dieser Gemeinschaft - er hat das aber eben nicht geschenkt bekommen. Man befindet sich trotzdem ständig weiter in diesem Kampf, wo man sich immer wieder aufs Neue beweisen muss um zu bestehen. Man muss immer darauf achten, dass man nicht doch eines Tages wieder zur Zielscheibe wird.
                                                                                                                                                      
                                                                                                                                                       16.04.2014
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