Blau ist eine warme Farbe (2013, Abdellatif Kechiche)
Abdellatif Kechiche's Gespür für eine authentische Inszenierung, wird ihm nach diesem knapp dreistündigen Film - der mit der goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet wurde - keiner mehr absprechen können; soviel dürfte sicher sein.
Ein Hauptgrund, warum der Film eine so große Realitätsnähe erzeugen kann, sind die Figuren, dessen Innenleben nie wirklich zu durchschauen sind. Sie funktionieren wie Menschen im echten Leben und sind völlig frei von stereotypischen Verhaltensmustern. Würde man den Film ohne Vorkenntnisse schauen, hätte man zb. bis zu der Szene in der Toilette nicht wirklich vermuten müssen, dass sich Adele zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt. Obwohl, wusste sie das eigentlich selbst? Man weiß es nicht.
Klar war jedoch auch, dass so ein prinzipiell angestrebter purer Realismus nur funktionieren kann, wenn man das nötige Personal vor die Kamera bekommt. Diese Aufgabe hat man eindrucksvoll bewältigt. Das bislang noch nie wirklich groß in Erscheinung getretene Duo in Form von Lea Seydoux und Adele Exarchopoulos lassen über die drei Stunden lange Laufzeit zu keinem Zeitpunkt Zweifel aufkommen, dass man Zeuge reeller Empfindungen und Lebensumstände wird. Die Kamera - welche zumeist sehr nah dran ist am Geschehen - tut dabei dem Realismus zu keiner Zeit einen Abbruch. Es ist bemerkenswert, wie die Darstellerinnen es in wirklich jeder Szene vollbringen sie - trotz ihrer allgegenwärtigen physischen Nähe - komplett aus der Betrachtungsweise des Zusehers zu nehmen und völlig natürlich durch sie hinweg zu spielen. Auch aufgrund dessen gibt es - obgleich der Überlänge - nie einen Moment, wo Kechiche's Echtheits-Anspruch auch nur ein wenig federn lassen muss. Dabei spielt es keine Rolle welche Emotion, welcher Gemützustand gefordert wird. Sei es Emma's immer präsente Selbstsicherheit und Souveränität; Adele's unsicheres Auskundschaften, in der sie zugleich ständig eine gewisse verlegene Entschlossenheit ausstrahlt; oder einfache Momente intensiver Emotionen, wie der Streit in Emma's Wohnung. Die zwei Protagonisten vermitteln jeden Affekt, jede Gemütslage in allen Phasen völlig überzeugend. Nicht, indem sie nach einem gewissen Handbuch Grimassen schneiden, sondern weil sie sensibel auf einzelne Situationen individuell reagieren, als ob es ihnen tatsächlich widerfährt. Als Zuseher erlebt man, auch aufgrund dieser durch und durch engagierten Darbietungen, den Ablauf nicht außerhalb des Handlungsgerüsts, sondern direkt mit den Charakteren. Zumindest so lange, bis die Begeisterung dieses dargelegten Realismus ein wenig nachlässt.
Sobald die Beziehung der zwei Frauen vollständig etabliert wurde, finden wir uns in einem etwas gefestigteren Zustand wieder. In dieser Phase geschieht es dann leider auch, dass der Realismus seine eindringliche Wirkung verliert. Das hat die Ursache darin, da infolge jenes gefestigten Zustands der Beziehung, nicht nur für die Protagonisten die fühlbaren Eindrücke des ungewissen Erforschens von neuen Situationen abhanden kommen; sondern auch für uns Zuseher. Diese gewisse Nüchternheit entsteht deswegen, da die Herangehensweise einzelner Szenen, trotz dieser neuen Umständen, immer völlig konstant bleibt. Kechiche's naturgetreuer Stil verkommt so ein wenig zu einem trüben Passivitäts-Faktor, der es nicht mehr wirklich schafft den Zuseher gefühlsmäßig einzubinden. Es fehlen nun die filmischen Innovationen innerhalb des lebensnahen realistischen Stils, um weitere Reize zu liefern. So überzeugend die Schauspieler und dessen in Szene setzen auch ist, nutzt sich der beständige kontrastlose Realismus mit den immer gleichen praxisnahen Annäherungen, auf dessen dann zumeist Nahaufnahmen der Protagonisten folgen, auf Dauer ab. Bewegende Momente - welche in der Lage sind beim Publikum intuitiv etwas auszulösen - sind nicht mehr in der Form vorhanden, wie zu Beginn. Umso länger der Film andauert, sind es dann zumeist nur mehr die Darsteller alleine, die das Publikum durch ihr überzeugendes Spiel in einzelnen Augenblicken überwältigen können. Aufgrund des sorgfältig nuancierten Grundthemas, bleibt aber zum Glück noch ein Interesse vorhanden, am nun eher trockenen observieren.
Diese Thematik der Klassengesellschaft ist immer präsent und ist - obwohl sie einem nie aufgezwungen wird - zu keinem Zeitpunkt nur ein Nebenschauplatz; sondern das Grundmotiv. Sie geht Arm in Arm mit der treibenden Kraft der lesbischen Liebesbeziehung und übernimmt, nachdem der einschneidende Realismus seinen Effekt verliert, die Überhand.
Das verblassende Blau
Die aus einem wohlhabenden Elternhaus stammende, in der Oberschicht verkehrende Emma, kann es sich leisten als offene Lesbe zu leben. Sie hat im Gegensatz zu Adele die nötigen finanziellen und sozialen Freiheiten, um keine Rücksicht nehmen oder Opfer bringen zu müssen. Ihr soziales, wie berufliches Umfeld besteht ausschließlich aus liberalen, kultivierten Menschen, die gerne über Gott und die Welt philosophieren. Natürlich spielt ihre Homosexualität hier, wie auch in ihrem Elternhaus keine weitere Rolle. Mit all diesen Faktoren, die für Emma selbstverständlich sind, hat Adele zu kämpfen. Sie lebt zwar in Emma's Kreisen als offene Lesbe - doch hat sie aber dafür ihr komplettes Leben umgestalten und ihr soziales Umfeld hinter sich lassen müssen. Ihre Überbürdung und Erschöpfung - die Last immer ihrer Leidenschaften zu folgen - macht sich nicht nur in der Szene bemerkbar, wo sie sich im Meer treiben lässt, um mal für ein paar Minuten eine Auszeit von den Kindern, die sie so gern betreut, zu bekommen.
Trotz all dieser Erschwernisse und Schwierigkeiten, versucht Adele ihren Passionen immer um jeden Preis nachzugehen. Spätestens nach dem letzten Aufeinandertreffen mit Emma in der Bar, wird diese unkonventionelle, leidenschaftliche Wesensart von Adele auch für jedermann ersichtlich. Sobald man diese realisiert - und das ist schwer bei einer vermeintlich spießigen Lehrerin - eröffnen sich automatisch andere Blickwinkel auf längst vergangene Situationen in ihrem Leben. Denken wir daran, wie sie als Teenager allein die Lesbenbar erkundete; wie sie Emma nicht abwimmelt nachdem sie an der Schule auftaucht; oder an die Szene in der Mädchen Toilette. Adele's mutige Zielstrebigkeit ohne Rücksicht auf Verluste - die uns zu Beginn, durch die verständliche und auch sichtbare Unsicherheit in ihrer Ausdrucksweise verschleiert wurde - zieht sich durch ihr ganzes Leben und wird jetzt offensichtlich. Auch die enthusiastischen Sexszenen erscheinen damit nicht mehr als inkonstanter Faktor, in der ansonst so bemühten wirklichkeitsnahen Darstellung. Viel mehr wahren sie ein konsequenter Ausdruck ihres Charakterprofils. Sie, die vermeintlich spießige Lehrerin ist die leidenschaftliche Figur mit einer freisinnigen Lebensführung - nicht etwa Emma und ihre Freunde, wie man zunächst meinen möchte.
Sobald Emma's Freisinn ausnahmsweise mal auf die Probe gestellt wird, schmeißt sie Adele hochkantig aus ihrer Wohnung und geht den für sie sicheren sittsamen Weg, mit der von ihr abhängigen Exfreundin. Die offene Auslebung ihrer Sexualität, wie ihre Tätigkeit als Künstlerin war dabei nie mehr als eine Selbstverständlichkeit. Sie kann sich die - vom Publikum ausgemachte - extraordinäre Lebensweise, aufgrund ihrer privilegierten Lebensumstände in der Oberschicht erlauben. Schaut man aber genauer hin, ist sie der vergleichsweise biedere Typus, der ein linientreues Leben führt.
Auf subtile Weise schildert uns der Film, wie in unserer kapitalistischen Mehrklassengesellschaft unsere tagtäglichen Leben und personenbezogenen Wahrnehmungen beeinflusst werden.